
Vom Chemnitzer Werkstattklang zur Seele des Tangos – Die Weltreise des Bandoneons
Stell dir ein Instrument vor, das mit jedem Atemzug seufzt, jubelt oder weint. Ein Instrument, das nicht nur gespielt, sondern gefühlt wird. Das Bandoneon – Herzblut aus Holz, Leder und Metall – hat die Kraft, ganze Musikrichtungen zu prägen. Und seine Reise beginnt dort, wo man es am wenigsten erwartet: im sächsischen Chemnitz.
Der Ursprung: Sächsische Tüftlerkunst trifft auf musikalisches Gespür
Im Jahr 1834 entwickelt der Chemnitzer Instrumentenbauer Carl Friedrich Uhlig die erste sogenannte Konzertina – ein kleines, handliches Knopfakkordeon. Gedacht für die Hausmusik, auf Jahrmärkten oder in Kirchen ohne Orgel, trifft sie mit ihrem resonanten Klang den Nerv der Zeit. Der durchschlagende Ton, erzeugt von frei schwingenden Metallzungen, ist laut, leidenschaftlich und beweglich – ein Instrument für das Volk.
In den Werkstätten rund um Chemnitz und Carlsfeld tüfteln weitere Handwerker an Verbesserungen. Die Zahl der Töne wächst, die Klangvielfalt steigt.
Heinrich Band und der Weg in die Welt
Der Krefelder Musiker und Händler Heinrich Band erkannte das Potenzial des Instruments aus Chemnitz. Er veränderte das Layout der Knöpfe, vergrößerte die Tonumfänge und benannte das neue Instrument nach sich selbst: Bandoneon. Besonders beliebt wurde es als Ersatz für die Kirchenorgel, etwa bei Freiluft-Gottesdiensten.
Im späten 19. Jahrhundert wurde das Bandoneon dann massenhaft von der Firma Alfred Arnold in Carlsfeld (heute ein Teil Sachsens, nahe Chemnitz) hergestellt – mit hoher Qualität und markantem Klang. So fand es seinen Weg auf die Schiffe deutscher Auswanderer nach Südamerika.
Der große Sprung: Vom Erzgebirge nach Buenos Aires
Was dann geschieht, ist musikalische Weltgeschichte: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandern viele Deutsche nach Südamerika aus – das Bandoneon im Gepäck. Besonders Buenos Aires, ein Schmelztiegel der Kulturen, wird zum neuen Klangraum des Instruments.
Dort, in den Hafenkneipen und Vorstadthöfen, begegnet das Bandoneon dem Tanz der Sehnsucht: Tango Argentino. Sein rauer, klagender Klang passt perfekt zu den Geschichten von Liebe, Stolz und Verlust. Schnell wird das Bandoneon zur Seele des Tangos – unersetzlich, unverwechselbar.
Klangrevolution: Wie das Bandoneon Musikgenres verändert hat
Das Bandoneon beeinflusst mehr als nur den Tango:
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Tango Argentino: Hier wird es zur Ikone – sowohl im klassischen Stil als auch im modernen Tango Nuevo von Astor Piazzolla, der das Bandoneon mit Jazz und klassischer Musik verschmilzt.
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Deutsche Volksmusik & Kirchenmusik: In seiner Frühzeit spielte das Bandoneon (bzw. die Konzertina) in evangelischen Freiluft-Gottesdiensten und bei bäuerlichen Festen.
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Neue Musik & Avantgarde: Komponisten wie Hans Zender oder Sofia Gubaidulina integrieren das Bandoneon in moderne Klangexperimente – es spricht auch im 21. Jahrhundert.
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Jazz & Weltmusik: In aktuellen Projekten von Musikern wie Dino Saluzzi oder Julien Labro findet das Bandoneon neue Partner – vom Saxofon bis zur E-Gitarre.
Die Rückkehr: Chemnitz erinnert sich
Während das Bandoneon international gefeiert wird, gerät seine Herkunft in Deutschland lange in Vergessenheit. Doch das ändert sich. Chemnitz – Europäische Kulturhauptstadt 2025 – nutzt die Chance, seine musikalische Wurzel wieder sichtbar zu machen.
Mit Tango-Festivals, Konzerten, Ausstellungen und Workshops feiert die Stadt ihr kulturelles Erbe. Schulen und Musikakademien bieten wieder Unterricht an. Junge Musiker entdecken das Instrument neu – nicht als Museumstück, sondern als lebendiges Ausdrucksmittel.
Fazit: Ein Klang, der Welten verbindet
Das Bandoneon ist mehr als ein Instrument. Es ist ein Reisender, ein Botschafter, ein Geschichtenerzähler. Es verbindet Chemnitzer Handwerkskunst mit argentinischem Lebensgefühl, sächsische Präzision mit globaler Emotion.
Und vielleicht ist das seine größte Magie: Es hat nie aufgehört, zu atmen. Ob im Ballsaal, im Konzertsaal oder auf der Straße – sein Klang bleibt ein Echo der Sehnsucht. Und dieses Echo hallt zurück nach Chemnitz – dorthin, wo alles begann.